Das Psychotherapeutenjournal, die offizielle Vierteljahresschrift der deutschen Psychotherapeutenkammern, veröffentlichte in Heft 4/2023 einen Artikel von Birsen Kahraman mit dem Titel „Wozu Rassismuskritik in der Psychotherapie-Profession?" Sie kritisiert darin „bisherige Versäumnisse“, angemessen auf Rassismuserfahrungen von Patienten in der Psychotherapie zu reagieren. Sie malt ein durch und durch finsteres Bild: Rassismus sei „strukturell“ in Deutschland und folglich auch unter Psychotherapeuten.
Hier das vollständige Heft mit dem genannten Artikel.
Gerald Mackenthun, ebenfalls Psychotherapeut, weist die Anschuldigungen in einer Replik zurück.
Psychotherapeutenjournal
- Redaktion -
80639 München
Berlin, 5. Januar 2024
Betr.: Leserbrief zu Birsen Kahraman: Wozu Rassismuskritik in der Psychotherapie-Profession?
Sehr geehrte Damen und Herren!
Das Bild, das die Autorin vom Umfang des Rassismus in Deutschland und speziell in den psychotherapeutischen Praxen zeichnet, ist niederschmetternd. Frau Kahraman leitet anhand einschlägiger Studien ab, dass sich Rassismus und Antisemitismus bis in die „Mitte der Gesellschaft“ vorgefressen hat. Die erhebliche Kritik an der Mitte- bzw. Leipziger Autoritarismus-Studien scheint der Autorin unbekannt zu sein. Die Kritik bezieht sich darauf, dass durch suggestive Fragen ein vorab erwünschtes Ergebnis erzielt wird, dass nämlich Rassismus und Antisemitismus zum deutschen Alltag gehören. Deutschland scheint demnach eine durch und durch verabscheuungswürdige Gesellschaft zu sein, die nichts anderes ist als antidemokratisch, antisemitisch, rassistisch und migrantenfeindlich. Da Rassismus angeblich „längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen“ ist, gilt das natürlich auch für den Raum der Psychotherapie. Diskriminierung in der Psychotherapie sei „strukturell“, was offenbar bedeuten soll: grundsätzlich und immer.
Wie und wo in den Fallbeispielen die Patienten Rassismus erfahren haben wollen, wird nicht deutlich. Eine Patientin zeigt eine undifferenzierte Übergeneralisierung, wenn sie sagt, dass sie in einem Deutschland lebe, dessen „Menschen sie umbringen“ wollen. Die Autorin, die offenbar auch ihre Therapeutin ist, sollte ihr beruhigend versichern, dass dies keineswegs der Fall ist. Der Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd zeigt nicht die Allgegenwärtigkeit von Rassismus bei der Polizei, wie an amerikanischen Polizeistatistiken abzulesen ist. Die Black Life Matters-Protestbewegung in Deutschland muss als grotesk bezeichnet werden, weil sie unreflektiert amerikanische Verhältnisse auf Deutschland übertrug.
Auch im Fallbeispiel drei und vier ist der Rassismus der umgebenden Menschen nicht belegt. Geschildert werden Probleme, die in einer psychotherapeutischen Praxis alltäglich sind. Ursachen dafür können vielfältig sein, natürlich auch unterschwellige oder offener Rassismus, aber es sind genauso gut andere Ursachen denkbar. Überempfindlichkeit der Patienten ist ein weit verbreitetes Symptom. In der Psychotherapie ist es schwer, zur Eigenverantwortung von Patienten vorzustoßen. Genauer gesagt, es ist mühsam, die Anteile von Fremd- und Selbstverschuldung auseinanderzuhalten, und insbesondere ist es schwierig, den Blick des Patienten auf den selbst zu verantwortenden Teil seiner Handlungen zu lenken. Gerade bei Mobbingopfern ist immer ein Eigenanteil mitzubedenken. Bedingungslose Wertschätzung des Patienten ist schön und gut, aber es muss nicht alles stimmen, was der Patient erzählt. Anzunehmen, dass immer gesellschaftliche Diskriminierung vorliegt, ist therapeutisch voreilig und suggestiv und kann in die falsche Richtung führen.
Zu einem Kernpunkt des Rassismus-Narrativs gehört das „gelesen Werden“. Was heißt das? Es wird etwas „hineingelesen“ in etwas. Es wird dort etwas entdeckt, was es dort vielleicht gar nicht gibt. Es geht also nicht um Tatsachenfeststellungen, sondern um Vorurteile und Meinungen. Die Autorin kommt nicht auf die Idee, umgekehrt die Rassismus- und Antisemitismus-Kritik als etwas „Gelesenes“ anzusehen, also als etwas, was in die deutsche Gesellschaft hineingelegt wird, was aber dort eventuell gar nicht existiert. Das „Gelesensein“ ist reine Meinung bzw. Selbstattribution und ist insofern einerseits beliebig, andererseits eventuell ein Trugbild.
Das Phänomen der Falschattributierung scheint der Autorin Kahraman unbekannt. Rassismus und Antisemitismus kann auch falsch "gelesen" werden. Es kann „gelesen“ oder erkannt werden, obwohl tatsächlich nichts für ein derartiges Urteil spricht. Von anhaltender Ignoranz, wie die Autorin meint, kann keine Rede sein. Diskriminierung ist seit Jahrzehnten ein Thema. Und obwohl seit Jahrzehnten in Deutschland über Rassismus und (weniger) Antisemitismus debattiert, gestritten und polemisiert wird, haben alle Appelle, Vereine und Initiativen offenbar nichts bewirkt. Das sollte dazu führen, die Arbeit von antirassistischen und antisemitischen Initiativen noch einmal gründlich zu überprüfen. Leisten sie, was sie sollen? Offensichtlich nicht.
Das Ziel der Autorin ist es, den Berufsstand der Psychotherapeuten dafür zu sensibilisieren, dass für Rassismus- und Antisemitismus-Betroffene eine existenzbedrohende Lage eingetreten ist. Ich kann nur für mich sprechen: In meiner Praxis ist dieses Thema so gut wie nicht existent, obwohl viele meiner Patienten aus aller Herren Länder kommen. Ich kann mich nur an eine junge Iranerin erinnern, die sich über einen Fall von Rassismus aufregte, der definitiv keiner war. Die Autorin aber ist hinsichtlich dessen, was sie in Deutschland erlebt, eindeutig: Es handelt sich um ein rassistisches Land, in dem jeder nur rassistisch sozialisiert werden kann (S. 362).
Da offenbar ganz Deutschland rassistisch und antisemitisch verseucht ist, bleibt Diskriminierten eigentlich nur die Auswanderung. Man fragt sich, warum immer noch so viele Menschen zu uns kommen wollen, oder umgekehrt, warum so wenige in angenehmere Länder fliehen. Die Ablehnung vor allem arabischer Ausländer gegenüber Deutschen, Frauen und Juden ist der Autorin ebenfalls keine Erwähnung wert. So entsteht ein Zerrbild der Wirklichkeit.
Die permanente Krisenrhetorik zerrt an den Nerven. Bei der Lektüre auch dieses Artikels schleicht sich ein hartnäckiges Unwohlsein ein. Kahraman bedient die öffentliche Debatte eines „Immerschlimmerismus“. Den Begriff hat Matthias Haux geprägt. Dieser Fokus, mit dem man auf die Welt blickt, ist übersensibel für Verschlechterungen und ignorant gegenüber Verbesserungen und dem erreichten Status Quo. Viele malen die Welt lieber schwarz in schwarz als in differenzierten Farben, darüber kann man schon mal den klaren Blick verlieren. Die Ansprüche steigen unaufhörlich und ignorieren des faktisch Erreichte.
Und noch ein letzter Punkt: Es ist der unbedenkliche Gebrauch des Begriffs Rassismus. Wenn wir uns einig sind, dass es keine menschlichen Rassen gibt, sollten wir von Ethnien sprechen. Es handelt sich um ethnologische Unterschiede. Wer aber derart unreflektiert den Rassebegriff verwendet, denkt rassisch und ist somit selbst ein Rassist.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Gerald Mackenthun
Psychologischer Psychotherapeut
Eichenallee 6
14050 Berlin
Mein Leserbrief wurde in der Ausgabe 1/2024 in Auszügen abgedruckt. Die beiden letzten Absätze waren nicht dabei.
Daneben erschienen sechs weitere Leserbriefe, die sich dankbar und zustimmend zu dem Kahraman-Beitrag äußerten. An ihnen erstaunt die Bereitschaft, sich masochistisch der Rassismus-Anschuldigung zu unterwerfen. Die Leserbrief-Schreiberinnen (es sind in diesem Fall ausschließlich Frauen) übernahmen nicht nur kritiklos, sondern geradezu freudig das Rassismus-Verdikt und bezogen es auf sich.
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